Amnesty International: Belarus 2020

Das Jahr 2020 war in Belarus von nicht nachlassenden friedlichen Protesten geprägt. Die Präsidentschaftswahl im August war Auslöser für die eklatanteste Unterdrückung der Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die das Land seit seiner Unabhängigkeit erlebt hat. Oppositionelle Präsidentschaftskandidat:innen, ihre Wahlkampfteams und Unterstützer:innen wurden unter falschen Anschuldigungen inhaftiert oder ins Exil gezwungen. Die Polizei setzte willkürliche und unverhältnismäßige Gewalt ein, um Demonstrationen aufzulösen. Zehntausende friedliche Demonstrierende und unbeteiligte Passant:innen wurden inhaftiert, viele von ihnen erlitten Folter und andere Misshandlungen. Auch Journalist:innen, Sanitäter:innen, Studierende, führende Gewerkschafter:innen und viele weitere Personen wurden festgenommen, verprügelt und strafrechtlich verfolgt. Die erste Reaktion der Regierung auf die Corona-Pandemie war unzureichend. Auch 2020 ergingen wieder Todesurteile.

Hintergrund

Sich verschlechternde Wirtschaftsprognosen, die unzureichende Reaktion auf die Corona-Pandemie und zahlreiche aufhetzende Äußerungen von Präsident Alexander Lukaschenko trugen dazu bei, dass seine Popularität 2020 drastisch sank. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahl am 9. August gab er in Fernsehsendungen, die zur besten Sendezeit ausgestrahlt wurden, frauenfeindliche Erklärungen ab. Zugleich eskalierten willkürliche Inhaftierungen, politisch motivierte Verfolgungen und andere Repressalien gegen Oppositionskandidat_innen, ihre Anhänger_innen, politische und zivilgesellschaftliche Aktivist_innen sowie unabhängige Medien. Ein oppositionelles Bündnis um die Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja brachte Frauen an die Spitze einer wachsenden Protestbewegung, die das ganze Land und die gesamte Gesellschaft erfasste. Während Präsident Lukaschenko nach der Wahl behauptete, er habe einen erdrutschartigen Sieg davongetragen, wurde das Ergebnis von Swetlana Tichanowskaja lautstark angefochten und von zahlreichen unabhängigen Wahlbeobachter_innen als gefälscht eingestuft. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die an der Entsendung von Wahlbeobachter_innen gehindert worden war, erhielt glaubwürdige Berichte über weit verbreitete Unregelmäßigkeiten und massives Fehlverhalten staatlicher Stellen. Die Proteste gegen die Durchführung und das offizielle Ergebnis der Wahl breiteten sich rasch im ganzen Land aus und blieben trotz eines brutalen Vorgehens der Behörden überwiegend friedlich. Personen, von denen angenommen wurde, dass sie die Proteste anführten, wurden umgehend inhaftiert oder außer Landes gezwungen. Die Beziehungen der Regierung zu einem Großteil der internationalen Staatengemeinschaft verschlechterten sich drastisch, und es gab gezielte Sanktionen gegen zahlreiche belarussische Staatsbedienstete, die an Wahlverstößen und Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren. Russland bekräftigte seine Unterstützung für die belarussische Regierung und leistete finanzielle Hilfe.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Um jegliche Opposition und Kritik zu unterbinden, wurde das Recht auf freie Meinungsäußerung 2020 massiv beschnitten, unter anderem durch die gezielte Verfolgung von Einzelpersonen und Medien, aber auch durch Gesetzesänderungen, staatlichen Druck, die Abschaltung des Internets und andere technische Maßnahmen.

Die Medien unterlagen nach wie vor der strengen Kontrolle durch die Regierung. Unabhängige Journalist_innen und Medienorganisationen wurden schikaniert und daran gehindert, ihren legitimen Tätigkeiten nachzugehen. Allein zwischen Mai und Oktober dokumentierten lokale Beobachter_innen mehr als 400 Fälle von Festnahmen, Folter und anderen Misshandlungen Medienschaffender. Um eine unzensierte Berichterstattung zu verhindern, wurde ausländischen Medien die Akkreditierung verweigert oder entzogen. Staatlich kontrollierte Druckereien weigerten sich, Ausgaben inländischer Zeitungen, wie zum Beispiel der Komsomolskaja Prawda, zu drucken, die regierungskritische Artikel enthielten. Dem großen Online-Nachrichtenportal TUT.by wurde die Lizenz entzogen. Nataliya Lyubneuskaya, die für die unabhängige Zeitung Nasha Niva arbeitete, war eine von mindestens drei Journalist_innen, die am 10. August von der Polizei mit Gummigeschossen angegriffen wurden. Sie musste operiert werden und verbrachte 38 Tage im Krankenhaus. Gegen mehrere Blogger_innen und Journalist_innen wurden politisch motivierte Strafverfolgungsmaßnahmen eingeleitet. Zu ihnen zählte Ihar Losik, der Mitbetreiber eines beliebten Telegram-Kanals, der am 25. Juni unter haltlosen Anschuldigungen inhaftiert wurde und sich Ende 2020 noch immer in Untersuchungshaft befand.

Die Behörden nötigten Internetprovider, während der ersten drei Protesttage nach den Wahlen und später während der allwöchentlichen Demonstrationen das mobile Internet fast vollkommen abzuschalten, um eine Koordinierung der Proteste und den Informationsaustausch zu verhindern. Gegen Webseiten unabhängiger Medien wurden routinemäßig Zugangsbeschränkungen verhängt.

Abweichende Meinungen, die sich in der gesamten Gesellschaft verbreiteten, wurden umgehend brutal unterdrückt. Studierende, Akademiker_innen, Sportler_innen, Persönlichkeiten aus den Bereichen Religion und Kultur sowie Angestellte staatlicher Unternehmen waren mit Entlassungen, Amtsenthebungen, Disziplinarverfahren oder gar Strafverfahren konfrontiert, weil sie sich gegen die Regierung ausgesprochen, friedliche Proteste unterstützt oder an Streiks teilgenommen hatten.

Frauen

Frauen mit abweichenden Ansichten waren geschlechtsspezifischen Repressalien ausgesetzt. Sie wurden mit gezielten Drohungen unter Druck gesetzt, die sie an ihren vermeintlich wunden Punkten treffen sollten. So drohte man ihnen mit sexueller Gewalt oder damit, ihre Kinder in staatliche Obhut zu nehmen.

Recht auf Versammlungsfreiheit

Das Recht auf Versammlungsfreiheit war 2020 weiterhin übermäßig stark eingeschränkt. Die Verwaltungsstrafen, die gegen friedlich Demonstrierende verhängt wurden, waren oft härter als die Strafen für manch kriminelle Handlung.

Zu Beginn des Jahres wurden Dutzende Aktivist_innen wegen „Verwaltungsvergehen“, die sie angeblich während friedlicher Proteste Ende 2019 begangen hatten, zu hohen Geldstrafen oder zu Verwaltungshaft verurteilt. Teilweise bestand die Strafe aus mehreren aufeinanderfolgenden Haftzeiten, weil das gesetzliche Maximum der Verwaltungshaft bei 15 Tagen lag.

Insgesamt wurden vom Beginn des Präsidentschaftswahlkampfes im Mai bis zur Wahl selbst Hunderte Menschen willkürlich festgenommen, unter ihnen friedlich demonstrierende Bürger_innen, Online-Aktivist_innen und unabhängige Journalist_innen. Die Festnahmen erfolgten oft durch Männer in Zivil, die rechtswidrig Gewalt einsetzten und Fahrzeuge ohne Kennzeichen benutzten. Gegen Dutzende Personen wurden Geldstrafen und Verwaltungshaft verhängt. Nach der Wahl protestierten in ganz Belarus Hunderttausende Menschen regelmäßig und friedlich gegen das offizielle Ergebnis. Zehntausende wurden festgenommen, Hunderte wurden gefoltert oder anderweitig misshandelt und streng bestraft. Bei einer Reihe von Festnahmen sahen Vertreter_innen von Amnesty International das unbegründete, willkürliche und brutale Vorgehen mit eigenen Augen.

Allein vom 9. bis zum 12. August wurden nach Angaben der Regierung 6.700 Demonstrierende inhaftiert. Die allwöchentlichen friedlichen Proteste gingen im ganzen Land weiter, sowohl auf den Straßen als auch in Staatsbetrieben, Theatern, Universitäten und anderswo. Offiziellen und unabhängigen Schätzungen zufolge wurden bis Mitte November mehr als 25.000 Menschen inhaftiert, darunter auch zahlreiche Zuschauer_innen und Journalist_innen. Wiederholt wurden an einem einzigen Tag mehr als 1.000 Personen festgenommen.

Lokale Menschenrechtsorganisationen dokumentierten mehr als 900 Strafverfahren mit Anklagen gegen mindestens 700 Personen.

Die Polizei, oft in Zivil gekleidet, ging wahllos und mit exzessiver Gewalt gegen Demonstrierende vor, sie feuerte Gummigeschosse aus kurzer Distanz in die Menge, setzte Blendgranaten, chemische Reizstoffe, Wasserwerfer, automatische Schusswaffen mit Platzpatronen, Schlagstöcke und andere Mittel ein, um friedliche Menschenmengen zu zerstreuen und Einzelpersonen festzunehmen. Mindestens vier Menschen wurden von den Sicherheitskräften getötet, einige weitere starben unter ungeklärten Umständen.

Während viele Demonstrierende und Passant_innen wahllos und willkürlich angegriffen wurden, gerieten andere wegen ihrer beruflichen Tätigkeit ins Visier der Polizei, zum Beispiel Medienschaffende, die über die Ereignisse berichteten, und freiwillige Sanitäter_innen, die sich um die Verwundeten kümmerten. Wieder andere wurden wegen ihrer sexuellen Identität herausgegriffen. Am 26. September nahm die Polizei die Menschenrechtsverteidigerin Victoria Biran auf dem Weg zu einer Kundgebung fest, nachdem sie als LGBTI-Aktivistin identifiziert worden war. Später wurden 15 Tage Verwaltungshaft gegen sie verhängt.

Recht auf Vereinigungsfreiheit

Die Behörden gingen 2020 brutal gegen jede Art von unabhängigen Vereinigungen vor, die sich dem Schutz der Menschenrechte und der friedlichen Opposition gegen die Regierung verschrieben hatten, wie zum Beispiel Initiativen von Menschenrechtsbeobachter_innen, oppositionelle Wahlteams und unabhängige Gewerkschaften. Dutzende Menschen wurden inhaftiert, unbegründet strafrechtlich verfolgt, in Verwaltungshaft genommen oder mit Gefängnis oder Ausweisung bedroht.

Am 6. Mai wurde der populäre Blogger und Präsidentschaftskandidat Sergej Tichanowskij 15 Tage lang unbegründet in Verwaltungshaft genommen, um seine Kandidatur zu verhindern, woraufhin seine Frau, Swetlana Tichanowskaja, entschied, selbst zu kandidieren. Als er am 29. Mai in Grodno Unterschriften für sie sammelte, versuchte man ihn zu provozieren, und er wurde auf der Stelle zusammen mit mindestens sieben seiner Mitarbeiter festgenommen. Sie wurden später gemeinsam mit anderen bekannten oppositionellen Bloggern im Zuge strafrechtlicher Ermittlungen nach Artikel 342 des Strafgesetzbuches („Organisation oder aktive Teilnahme an Gruppenaktionen, die die öffentliche Ordnung grob verletzen“) angeklagt.

Ein weiterer Präsidentschaftsanwärter, Viktor Babariko, wurde mit seinem Sohn Eduard Babariko, Mitgliedern seines Teams und ehemaligen Kolleg_innen wegen konstruierter Vorwürfe, die sich auf Wirtschaftsdelikte bezogen, ebenfalls festgenommen, um ihn von der Wahl auszuschließen und andere Präsidentschaftsanwärter_innen abzuschrecken.

Präsident Lukaschenko brandmarkte den von Swetlana Tichanowskaja initiierten und von einem siebenköpfigen Präsidium geleiteten oppositionellen Koordinierungsrat als „versuchte Machtergreifung“. Am 20. August leiteten die Behörden strafrechtliche Ermittlungen nach Artikel 361 Strafgesetzbuch („Aufruf zu Handlungen, die die nationale Sicherheit zu untergraben suchen“) gegen das Gremium ein. Ende 2020 waren alle Präsidiumsmitglieder und viele ihrer Unterstützer_innen inhaftiert oder ins Exil gezwungen worden.

Am 7. September 2020 wurde die Oppositionsführerin Maria Kolesnikowa entführt und mit zwei Mitarbeitern zur ukrainischen Grenze gebracht. Dort drohte man ihr mit Gefängnis, sollte sie das Land nicht freiwillig verlassen. Während ihre Mitarbeiter die Grenze passierten, zerriss Maria Kolesnikowa ihren Pass und verhinderte so ihre Ausweisung. Die Behörden hielten sie zwei Tage lang ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft und leugneten ihre Inhaftierung. Anschließend nahm man sie unter falschen Beschuldigungen als mutmaßliche Straftäterin in Untersuchungshaft. Auch Maxim Snak, ein weiteres Präsidiumsmitglied, wurde verschleppt und inhaftiert.

Am 17. September nahmen Sicherheitskräfte die Menschenrechtsverteidigerin Marfa Rabkova vom Menschenrechtszentrum Viasna fest. Sie wurde später wegen „Vorbereitung von Massenunruhen“ in Zusammenhang mit ihrer Menschenrechtsarbeit angeklagt und blieb in Untersuchungshaft.

Der Vorsitzende der unabhängigen belarussischen Gewerkschaft, Anatoli Bakun, wurde in Zusammenhang mit politischen Streiks in der Kalimine Belaruskali in Salihorsk wiederholt willkürlich festgenommen und nacheinander zu insgesamt 55 Tagen Verwaltungshaft verurteilt. Drei weitere aktive Gewerkschafter, Yury Karzun, Syarhei Charkasau und Pavel Puchenya, waren zwischen September und November wegen desselben „Vergehens“ jeweils 45 Tage in Haft.

Folter und andere Misshandlungen

Die Behörden setzten 2020 systematisch Folter und andere Misshandlungen gegen Menschen ein, die bei Protesten festgenommen wurden, seien es Demonstrierende, Journalist_innen oder Umstehende. Örtliche und internationale Gruppen dokumentierten Hunderte solcher Fälle im ganzen Land.

UN-Menschenrechtsexpert_innen erhielten 450 Zeugenaussagen über Misshandlungen von Inhaftierten, die durch Fotos, Videos und medizinische Beweise untermauert waren und eine fürchterliche Liste von Verstößen dokumentierten. Sie belegten, wie Demonstrierende bei der Festnahme, während des Transports und in der Haft in stark überfüllten Einrichtungen gefoltert und misshandelt wurden. Männer, Frauen und Minderjährige wurden gedemütigt, brutal geschlagen und sexualisierter Gewalt ausgesetzt, sie erhielten während langer Haftzeiten keinen Zugang zu Nahrung, sauberem Wasser und medizinischer Versorgung. Den Inhaftierten wurde auch das Recht verweigert, ihre Angehörigen über ihren Aufenthaltsort zu informieren, in einigen Fällen während der gesamten Dauer der Verwaltungshaft. Auch der Zugang zu ihren Rechtsbeiständen wurde ihnen verweigert. An sie gerichtete Briefe und Pakete wurden zurückgehalten und warme Kleidung und Hygieneartikel, wie zum Beispiel Produkte der Monatshygiene für Frauen, beschlagnahmt.

Die belarussischen Behörden gaben zu, dass sie etwa 900 Beschwerden über Misshandlungen durch die Polizei in Zusammenhang mit den Protesten erhalten hatten. Bis zum Jahresende war aber noch keine einzige strafrechtliche Ermittlung eingeleitet und noch keine Angehörigen der Behörden unter Anklage gestellt worden.

Recht auf Gesundheit

Die erste Reaktion der Regierung auf die Pandemie war unangemessen. Präsident Lukaschenko tat Covid-19 als „Psychose“ ab. Als es die ersten bestätigten Todesopfer gab, erklärte er, sie seien aufgrund ihres Lebensstils gestorben. Er empfahl Traktorfahren, Wodka und Saunabesuche als Heilmittel und weigerte sich, stärkere Einschränkungen zu verhängen.

Todesstrafe

Belarus war auch 2020 das einzige Land Europas und der ehemaligen Sowjetunion, das Todesurteile verhängte. Mindestens vier Männer saßen Ende des Jahres in den Todestrakten. Gerichte verhängten mindestens drei Todesurteile, zwei davon gegen Brüder im Alter von 19 und 21 Jahren. Es wurden keine Hinrichtungen gemeldet.