Kommentar: Wie umgehen mit Autokraten und Diktatoren?

Die Flugzeugentführung im weißrussischen Luftraum hat die Welt schockiert. Scharfe Sanktionen fordern fast alle Staaten, aber mit der Umsetzung ist es nicht so einfach. Machthaber Lukaschenko ist bisher zumindest kaum zu beeindrucken.

NDR Info Wochenkommentar von Heribert Prantl, Autor und Kolumnist der „Süddeutschen Zeitung“

„Wie viel Blut darf an den Händen eines Politikers kleben, auf dass Sie ihm noch die Hand schütteln“? Ich habe das einmal einen deutschen Außenminister gefragt; viele, viele Jahre vor Corona. Der Außenminister, es war der FDP-Politiker Klaus Kinkel, hat darauf in schöner Ehrlichkeit geantwortet: „Das kommt darauf an!“

Daran habe ich bei der Diskussion über die Reaktionen der EU auf den Kidnapper Lukaschenko denken müssen. Wie sollen die demokratischen Staaten reagieren darauf, dass der Machthaber einen seiner Kritiker aus dem entführten Flugzeug zerren lässt? Wie soll das sanktioniert werden? Worauf kommt es an, wenn es gilt, auf die brutale Unterdrückung der Opposition in Belarus oder auf den Putsch in Myanmar richtig zu reagieren? Wie geht man mit Autokraten und Diktatoren um, die sich um Menschen- und Völkerrecht nicht oder wenig scheren?

Menschenrechtsverletzungen versus Wirtschaftsinteressen

Das kommt darauf an – hat der genannte Außenminister gesagt. Ist das der zentrale Satz, beim Umgang von Demokratien mit Diktatoren und Autokraten? Es kommt darauf an: Ist das das Motto bei der Gestaltung der Beziehungen zu den Ländern, die in Berichten über Menschenrechtsverletzungen obenan stehen? Heißt das: Je größer und je wichtiger diese Staaten für deutsche und europäische Interessen sind, umso zahmer wird die Kritik? Je kleiner das Land, desto größer die Empörung? Geht es also um Wirtschaftsinteressen, um strategische Interessen? Manchmal drängt sich, im Umgang mit China beispielsweise, mit Russland weniger, so ein Eindruck auf.

Ich habe die Frage mit dem Händeschütteln 1996 auch dem damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog gestellt. Wem schüttelt er die Hand und wem nicht? Herzog war ein pragmatischer, kein opportunistischer Mann. „Das muss von Fall zu Fall immer wieder neu überlegt werden“. Warum? Bei den Menschenrechten kommt es darauf an, tatsächliche Verhältnisse tatsächlich zu ändern: „Da muss ich mir“ sagte Präsident Herzog, „überlegen, auf welche Weise ich am weitesten komme“. Also: Wie kommt man am weitesten, wie bringt man die Menschenrechte voran?

Das tust Du doch auch!

Mit einer angeblich mutigen Rede in Brüssel oder Berlin? So mutig ist so ein Reden nicht, weil einem ja keiner was tut. Im Gegenteil: Es gibt hierzulande viel medialen Beifall dafür. Vor moralischer Selbstüberhebung muss man sich hüten. Das provoziert ein „tu quoque“ – also den Vorwurf: Das tust Du doch auch! Gregor Gysi hat darauf hingewiesen, dass die USA 2013 das Flugzeug des bolivianischen Präsidenten Morales gezwungen haben, in Wien zu landen, weil sie glaubten, Snowden sei an Bord, den sie dort festnehmen wollten. Das war dann nicht so und es wurde niemand festgenommen und es handelte sich auch nicht um ein Passagierflugzeug, sondern um ein Staatsflugzeug. Trotzdem: Sauber war und ist es nicht. Und die Chinesen kontern Vorwürfe gern mit dem Hinweis auf gewalttätigen Rassismus in den USA.

Außenpolitik braucht eine klare Haltung

Moralische Grundsätze lediglich an die Wand zu malen und damit dann gut dazustehen – das ist nicht unbedingt moralisch. Man muss sie selbst praktizieren, man muss sich innenpolitisch anstrengen, sie einzuhalten. So wird man, so ist man glaubwürdig. Und Außenpolitik braucht eine klare Haltung, sie kann und soll sich, wie im Fall Belarus, in schnellen Sanktionen zeigen, die die Staatsterroristen wirksam treffen; sie soll aber möglichst nicht die Bevölkerung treffen. Und diese klare, sanktionsgestützte Haltung muss man in Verhandlungen vertreten. Alles, was die zivile Opposition stärkt, ist gut.

Bundespräsident Herzog hat seinerzeit als Beispiel für eine kluge Menschenrechtspolitik den Umgang mit der ehemaligen Sowjetunion genannt: Sämtliche Beziehungen abzubrechen, nur weil sie nicht bereit war, über Menschenrechte zu sprechen, wäre völlig falsch gewesen. Es sei damals viel besser und wirkungsvoller gewesen, das Thema in einen größeren internationalen Dialog namens KSZE zu bringen.

In Gesprächen Vertrauen schaffen

Herzog hatte Recht und er hat immer noch Recht. Leider ist das deutsch-russische Verhältnis während der Kanzlerschaft Merkel eingefroren. Es ist fast wieder so frostig wie im Kalten Krieg. Gäbe es noch so etwas wie Entspannungspolitik – für die Menschenrechte wäre das besser, in Belarus und in Russland. Entspannungspolitik ist ja nichts Kleinmütiges, sie ist nichts Kleinlautes. Sie ist selbstbewusstes Verhandeln, sie besteht darin, in Gesprächen Vertrauen zu schaffen. Wie gesagt: Bei den Menschenrechten kommt es darauf an, tatsächliche Verhältnisse tatsächlich zu ändern. Auf welche Weise komme ich am weitesten? Das ist die wichtigste Frage.

Quelle: NDR