Für Studierende in Stuttgart wurde ein Vortrag über Menschenrechte in Russland gehalten (Online-Update)

Der Politologe Igor Eidman hat live mit russischen MenschenrechtlerInnen und AktivistInnen gesprochen. Am 31. Oktober fand die zweite Vorlesung zu diesem Thema in Stuttgart statt. Diesmal versammelte die Vorlesung Studenten und Studentinnen in einer Universitätsbibliothek.

 

Eingeladene MenschenrechtsaktivistInnen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens erzählten von ihren Geschichten

 

Alexej Polochowitsch, ehemaliger Häftling im „Bolotnaja-Fall“, der von 2012 bis 2015 drei Jahre im Gefängnis verbrachte und nun anderen Aktivisten hilft, arbeitet im Menschenrechts-Medienprojekt „OVD-Info“.

Dmitry Piskunov, ein Menschenrechtsaktivist, ist an dem Kampf gegen illegale Gewalt durch Strafverfolgungsbehörden, Folter und Entführungen im Nordkaukasus beteiligt.

Der berühmte russische Dichter und Publizist Lev Rubinstein, der den Zustand der Sprache untersucht (einschließlich der Sprache des Protestes, der Sprache des Widerstands, der Sprache der Kultur usw.), sprach von „krampfhaften“ Repressionen gegen Kulturschaffende, für die die Behörden seiner Meinung nach keinen Plan haben. Erwähnt wurden unterbrochene Ausstellungen, Verfolgung von KünstlerInnen und Inhaftierung von Mitgliedern der Gruppe Pussy Riot.  Herr Rubinstein betonte, dass er glaubt, dass es einen Mangel an Solidarität zwischen den Menschen der Kultur in Russland gibt, aber dennoch wächst das Niveau dieser Solidarität.

Der Historiker und Publizist Nikolai Rudensky, der in Russland für seine Analyse der russischen Propaganda und ihrer Auswirkungen auf den Zustand der Gesellschaft seit vielen Jahren bekannt ist, erzählte, wie Propaganda im Regime der Gewalt zu existieren hilft. Er teilte auch eine interessante Tatsache mit dem Publikum: Der Historiker schuldet seinem Vater, dass er Interesse an dem Thema geweckt bekommen hat. Als Arzt von Beruf hat sein Vater in der Sowjetzeit besonders kuriose und absurde Artikel aus Zeitungen ausgeschnitten und durch Einkleben in einem Heft gesammelt.

Die Politikerin Julia Galyamina, die die neue Opposition in Russland vertritt, versuchte, an den Wahlen teilzunehmen, wurde aber verhaftet. Dennoch hält Frau Galyamina diese Erfahrung für wichtig, da es gezeigt hat, dass die neue Opposition von Menschen unterstützt wird, die bereit sind, ihre Stimme abzugeben und sogar ihr Wahlrecht bei Straßenprotesten zu verteidigen.

 

Hoffnung auf Kinder von dem Babyboom

 

Die Gäste des Treffens diskutierten, ob es möglich ist, in den nächsten 10-15 Jahren einen Rechtsstaat in Russland zu schaffen. Alexej Polichowitsch vertrat die Ansicht, dass für eine solche Entwicklung notwendige öffentliche Organisationen geschaffen und entwickelt werden, die eine Voraussetzung für den Wandel des gesamten Staates schaffen.

Julia Galyamina stimmte diesem Standpunkt zu und stellte auch fest, dass in der russischen Gesellschaft ein großer Bedarf an Gerechtigkeit besteht und dass radikale Reformen des Justizsystems erforderlich sind. Und diese Reformen werden nur unter besonders starkem gesellschaftlichem Druck, dem Wechsel der politischen Eliten oder einem vollständigen Machtwechsel möglich sein.

Frau Galyamina glaubt, dass die politische Aktivität der jungen Menschen, die jetzt etwa 20 Jahre alt sind, keine größeren Veränderungen mit sich bringen wird, da es sich statistisch gesehen um eine kleine Schicht der Gesellschaft handelt. Sie setzt mehr Hoffnung auf diejenigen, die jetzt 15 Jahre alt sind, da sie die Kinder des „Babybooms“ sind. Es gibt viel mehr von ihnen, sie schauen kein Fernsehen, was das größte Medium für Propaganda ist. Und wenn diese jungen Menschen in etwa 5 Jahren in den politischen Protest aufgenommen werden, wird ihre Zahl größer und effektiver sein.

Nikolai Rudensky teilte nicht den Optimismus meiner Vorredner, und Lev Rubinstein betonte, dass es sehr wichtig ist, nicht so sehr über die Rechtsstaatlichkeit zu sprechen, sondern zunächst über die Entwicklung des Rechtsbewusstseins in der Gesellschaft.

Dmitri Piskunov wiederum zitierte den Herausgeber von „Media-Zona“ mit den Worten, dass „es schlimmer sein wird“ und dass man moralisch darauf vorbereitet sein sollte.

 

Lev Rubinstein: „Das Gefühl des Deliriums wächst ständig“

 

Sie diskutierten auch die Besonderheiten des Aktivismus in Russland, die de facto fehlende Gewaltenteilung und und Machtmissbrauch auf verschiedenen Ebenen sowie die mangelnde Unabhängigkeit der russischen Regionen und die Korruption.

Es wurde auch ein pessimistisches Szenario geäußert, nämlich: Je mehr die Gesellschaft erwacht, desto stärker werden die Repressionen werden. Leider spricht laut Alexej Polichowitsc die Tatsache, dass die Verfolgung von Aktivisten jetzt schlimmer geworden ist als 2012, als er inhaftiert wurde, für diese Variante der Entwicklung von Ereignissen. War die Verfolgung früher zumindest formell legal, so wird man jetzt für längere Zeit weggesperrt, Strafverfahren unter schweren Artikeln für „Terrorismus“ und Drogen werden gefälscht, ebenso wird man gefoltert.

Am Ende des Treffens äußerte der Moderator, der Politikwissenschaftler Igor Eidman, jedoch die Hoffnung, dass die Informationen, die man von MenschenrechtlerInnen und AktivistInnen über die Entwicklung der Situation bekommen hat, uns hoffen lassen, dass, wenn der russische Staat schwer krank ist, ist zumindest die russische Zivilgesellschaft schon „auf dem Weg der Genesung“.

 

Video des Treffens: